Bisher habe ich den Tod entweder gefürchtet und möglichst vermieden. Oder ich habe ihn beschönigt, d.h. ihn als Durchgangsstation interpretiert, weil dies so in den Büchern beschrieben wurde und meinem Verständnis entsprach, wie ich die katholische Religionslehre verstand. Die Radikalität der Endgültigkeit habe ich immer beschönigt in der Weise, dass ich sie als "Befreiung von etwas" interpretierte. Dennoch blieb eine diffuse Angst, Bauchgrummeln und Scheu vor der Auseinandersetzung mit dem Tod, es blieb eine Weigerung mich dem Thema zu stellen.
Wenn ich mit Dritten über den Tod diskutierte, machte und benötigte ich viele Worte. Dies stand im glatten Widerspruch zu den Erlebnissen bei Begräbnissen, in welchen die Stille durch Sprachlosigkeit herrschte und in den Reden und Gebete eben die Unmöglichkeit beschrieben wurde, das sprachlich nicht Fassbare zu formulieren.
Irgendwie hatte und habe ich das Gefühl von Gewissheit, dass das Thema Tod sich niemals für Lebende erschließen lassen kann.
In meiner Nachbarschaft ist ein Mann an Alzheimer erkrankt. Seine Frau und ihre Schwester betreuen den Menschen mit einer ungeheuren Hingabe, die nicht mit Überfürsorge zu tun hat. Sie gehen mit ihm täglich spazieren. Sein Körper wird täglich weniger: er scheint rapide an Gewicht zu verlieren. Der Gang wird immer steifer. Gestern waren sie wieder unterwegs, ein kleines Schwätzchen über den österlichen Schnee mit den beiden Schwestern, er schaut mich mit inzwischen leeren Augen an. Ich weiß nicht, ob er versteht, was wir sprechen, ob er akzeptiert, was wir tun - und wo er geistig ist. Die leeren Augen lassen mich vermuten, dass er längst nicht mehr im Körper ist. Aber wer ist dann unterwegs? Oder ist er (seine Seele) präsent in einer Art und Weise, die immer weniger durch Körperlichkeit ausgedrückt wird?
Irgendwie fühle ich mich dem Mann, besser seine Seele mit jeder Begegnung mehr verbunden. Ich habe immer das Gefühl, mit ihm zu sprechen, ohne dafür die Sprachwerkzeuge zu benötigen. Die leeren Augen haben eine Tiefe, die im Unendlichen zu münden scheint und sind doch so unlebendig, dass ich eine körperlich ausgedrückte Botschaft interpretiere, die Wand der leeren Augen zu respektieren und nicht durchdringen zu wollen. Mit dem Mann habe ich zeitlebens (das ist wörtlich zu verstehen in dem Sinne, dass ich den Mann lebendig und lebensfroh erlebte), kaum gesprochen. Uns verband nichts. Und jetzt diese Innigkeit: Ständig spüre ich eine Frage bzw. seine Bitte, ihn zu verstehen, besser: meine Zweifel aufzugeben, dass ich ihn nicht verstehen könne! Stetig habe ich den Eindruck, dass er mir mitteilt, dass ich ihn sehr gut verstehe - und er mich auch, dass wir "alles" übereinander wüssten, ohne es jemals (gehirnmäßig) wissen zu können und uns Hier und Jetzt austauschen zu können, das seine Sprachwerkzeuge und Denkzeuge (Gehirn) nicht mehr (technisch, mechanisch, synaptisch) folgen bzw. benutzt werden können.
Die Liebe zwischen dem Mann und seiner Frau ist fast sichtbar: Die Innigkeit zwischen der lebendigen Frau und dem Mann ist unübersehbar und von einem Zauber, den ich bisher nur bei sehr jungen Menschen beobachtet habe, die sich zum ersten Mal ihre zarte ersten Liebe entdecken und sich behutsam mit kleinsten Signalen teilen und mitteilen. Gegenüber der Schwester der Frau, die den Mann ebenfalls unterstützt, habe ich dieses Gefühl nicht: Der Mann und die Schwester der Frau strahlen eher eine Hilfestellung aus, die angeboten und akzeptiert wird, wenn gleich auch kleinste Bewegungen des Mannes anzudeuten scheinen, dass er es hasst, dass er auf diese Hilfestellung angewiesen ist und er nicht mehr alleine, besser mit seiner Frau alleine gehen kann. Kleinste Bewegungen der Schwester scheinen auch mir (d.h. Dritten) darauf aufmerksam machen zu wollen, dass sie die Hilfe "gerne" täte: Alle ihre Handlungen weisen einen Hauch zu viel Hilfestellung auf, so zumindest meine Interpretation der Aura des Erscheinungsbildes der drei Personen, soweit es den Mann und die Schwester der Frau angeht. Die Aufmerksamkeit erregenden feinsten Bewegungen der Schwester scheinen auch die Hilflosigkeit und den Ärger auszudrücken, nicht mehr wirklich helfen, sondern nur noch stützen, im wahrsten Sinne des Wortes: unterstützen zu können. Das Kaschieren der eigenen Unmöglichkeit, sich selbst halten zu können, scheint den Mann unangenehm zu sein: Er scheint nicht schwach erscheinen zu wollen gegenüber Dritten und schon gar nicht unterstützt zu werden von Personen, die ihm "zu Lebzeiten" immer unterlegen waren.
Die Stütze und Unterstützung der Frau scheint der Mann anzunehmen. Er scheint mitteilen zu wollen, dass er diese Hilfe annimmt und annehmen kann und will, er scheint mitteilen zu wollen, dass das gemeinsame Erscheinungsbild unverändert ausdrückt, dass er und seine Frau eine Einheit bilden und immer mehr werden, je mehr sich die körperliche Erscheinung der quicklebendigen Frau von der stetig zunehmenden Versteifung, besser Versteinerung des Mannes unterscheidet. Sie scheint von seinem "Leben" zu gewinnen.
Das Gesicht und das Erscheinungsbild des Mannes werden von Tag zu Tag den Bildern über den Gevatter Tod in der Kunst immer ähnlicher: Die Haut wird täglich grauer, die Furchen im Gesicht immer tiefer, die Augen hohler, der Mund unbeweglicher, die Haltung immer mehr eine paradoxen Standfestigkeit ähnlicher: Einerseits starrer und unbeweglicher und immer weniger auf aktuelle Ereignisse und Einflüsse reagierend und andererseits täglich immer gebrechlicher, brüchiger, die Standfestigkeit wird in sich selbst zusammenbrechen: es gibt kein Hinfallen mehr, von welchem man wieder aufstehen könne: Die Standfestigkeit der Gestalt zerbröselt im Innern, bis die Gestalt in sich zusammenbricht - an dem Ort, an welchem sie sich befindet, ohne irgendwelchen weiteren Raum zu benötigen, wie ihn ein Hinfallen und wieder-Aufstehen erfordern würde. Der Stand scheint auch ein Rückzug von der Räumlichkeit zu sein, die man für sich benötigt bzw. noch einnimmt oder einnehmen kann.
Die Bezogenheit des Standes auf das Umfeld, das den Stand erst ermöglicht bzw. stabilisiert, scheint täglich geringer zu werden: die Standfestigkeit der äußeren Gestalt muss immer mehr aus der eigenen inneren Kraft heraus erfolgen, die täglich immer kleiner wird in dem Sinne, dass die vorhandene äußere Gestalt täglich immer mehr als zu groß erweist für den (inneren) Rückzug der Kraft, die nicht mehr nach außen gerichtet ist (= Versteinerung der Fassade, des Körpers), sondern nur noch nach innen. Hier stellt sich mir die Frage, wo das Zentrum des Innen liegt, auf welches sich die Kraft konzentriert und wo diese gebündelte Kraft bleibt, wenn die Hülse zerbricht, die Gestalt, der Körper, der Mensch stirbt.
Während ich diesen Text schreibe, es ist Donnerstag, 27. April 2008, habe ich den Gedanken, dass es genau dieser Text ist, den mir der Mann aufzuschreiben aufgab, als er mich immer wieder mit immer leereren Augen immer flehender ansah. Ich weiß nicht und kann es nicht wissen und werde es zu meine Lebzeiten auch nicht mehr erfahren, ob ich diesen Gedanke mit dem Mann teile, dass er ein Ausdruck einer gemeinsamen verbundenen Seele ist, die sein Leben und seine Erfahrung durch mich materialisieren lässt, was ihm nicht mehr möglich ist - und mir nicht, weil ich nicht in einem körperlichen und geistigen Zustand bin, der mit die hier beschriebenen Erfahrungen ermöglichen würden. Und ich will sie auch gar nicht machen! Ich bin gespannt auf die nächste Begegnung mit dem Mann: Ich werde wieder die Straße kehren, damit wir das übliche Schwätzchen halten können.
Im Moment fühle ich mich auf eine ganz eigenartige Art und Weise zufrieden. Obwohl es 05.14 Uhr ist und ich vorhatte, vorhin (ca. 03:40 Uhr) gemachten Notizen festzuhalten, werde ich jetzt nochmals zu Bett gehen. Hellwach, grellwach. Dennoch werde ich sehr ruhig im Bett liegen können. Mal sehen, was kommt: Ich bin bereit. Aufnahmebereit. Wohin? Von was? Von wem?
Das Ergebnis werde ich hier berichten.
Dieser Kontext ist ein Modul des Kontextes: "Tarot in der Wissens-transformation".
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